Bahnwärter Thiel – Die Tragödie des kleinen Mannes
Gerhart Hauptmann veröffentlichte seine «novellistische Studie» Bahnwärter Thiel 1888 – mitten in der Aufbruchsstimmung des deutschen Naturalismus. Statt Königen oder Feldherren rückt er einen unscheinbaren Eisenbahnbediensteten ins Zentrum und zeigt, wie Technik-, Arbeits- und Familienlasten einen Menschen zermahlen. Diese Perspektive auf «den kleinen Mann» bildet den roten Faden dieses Blogs.
Der erste Aspekt in dem sich diese «Tragödie des kleinen Mannes» in Bahnwärter Thiel zeigt, ist unsere Hauptfigur: der Bahnwärter Thiel. Schon seit zehn Jahren arbeitet er pflichtbewusst auf einem einsamen Waldposten. Nur zwei Unfälle – ein herabfallender Kohlebrocken und eine Weinflasche aus einem Schnellzug – zwangen ihn je ins Bett. Schon diese Episode deutet an, wie sehr sein Körper den Gefahren des industriellen Alltags ausgeliefert ist. Er arbeitet Tag für Tag, ohne einen nennenswerten Lohn dafür zu bekommen. Wie im Naturalismus üblich, ist er kein mythischer Held oder glorreicher General, nur ein unscheinbarer und unsichtbarer Held der Gesellschaft; ein Zahnrad von Vielen in der grossen Maschine des Industrialismus.
Thiels Blockhütte liegt «zwischen den schwarzen, parallellaufenden Geleisen, die einer ungeheuren eisernen Netzmasche glichen». Telegraphendrähte singen, die Erde vibriert – Technik drängt sich in jeden Moment. Zugleich umschliesst ein scheinbar erhabener Kiefernforst den Posten und spiegelt Thiels innere Spannung: religiöse Friedfertigkeit beim allsonntäglichen Kirchenbesuch trifft auf die lärmende und unaufhaltbare Lokomotive des Fortschritts.
Die Eisenbahn nimmt symbolische Bedeutung als Schicksalsmaschine an. Der Frieden und die Ruhe der Natur wird zerrissen als «ein rasendes Tosen und Toben erfüllte den Raum, die Geleise bogen sich, die Erde zitterte – ein starker Luftdruck – eine Wolke von Staub, Dampf und Qualm, und das schwarze, schnaubende Ungetüm war vorüber» (PDF S.30). Der Zug steht für eine gesichtslose Macht, die weder Rücksicht auf Individuen noch Natur nimmt. Genau diese anonyme Kraft des Industrialismus wird später Tobias – Thiels erstem Kind – das Leben kosten.
So bedrängen also Technik- und Umweltkräfte Thiels Leben – die Haupthandlung des Buches dreht sich jedoch um Thiels Privatleben. Nach Minnas Tod trägt er ein stummes Gelübde in sich, Tobias «mit Leib und Seele zu behüten» (dieses Versprechen wird in meiner PDF-Fassung tatsächlich nicht erwähnt, was einige Verwirrung stiftet). Dieses Versprechen ist kein heroischer Eid, sondern eine stille Selbstverpflichtung, wie sie einem gläubigen, arbeitsamen Kleinbürger entspricht. Als Lene – Thiels zweite Frau – in die Familie tritt, stellt sie dieses heilige Band auf die Probe: Sie ordnet den Haushalt nach ihrem Willen, straft Tobias für kleinste Verfehlungen und reibt sich am schweigsamen Frommsein des Mannes. Thiel sieht die Striemen, hört das Weinen – und schweigt aus Pflicht- und Schamgefühl. Was er nicht laut sagen kann, arbeitet in seinem Innern wie eine stets schwelende Glut.
Im Dienst – wenn es Stundenlang an jeglicher Ablenkung fehlt – wird diese Glut nur weiter zum Wildfeuer angeschürt. Jedes Vorbeidonnern eines Schnellzugs lässt die Erde beben und die Telegraphendrähte singen. Während er Signale setzt, murmelt Thiel die Psalmen, zählt Schwellen, wiederholt Formeln – Zwangshandlungen, die Ordnung simulieren. Äusserlich ist Thiel gelassen und gewissenhaft wie immer – seine Seele droht jedoch längst zu reissen. Nachts drängen sich ihm Visionen von Minna auf: mal erscheint sie friedvoll, mal blutüberströmt; stets aber hält sie Tobias schützend im Arm. Dagegen steht das reale Bild Lenes, deren harte Stimme ihn selbst im Traum verfolgt. Die beiden Frauen verkörpern Thiels unvereinbare Pflichten – Treue zum Versprechen versus Gehorsamkeit gegenüber der neuen Ordnung.
Die Spannung entlädt sich, als Lene die beiden Jungen zum Acker an der Bahnlinie mitnimmt. Thiel warnt sie, ein Auge auf die Gleise zu halten, seine Warnung trifft aber auf taube Ohren. Sekunden später zerreissen Notpfiffe und Bremsquietschen die Luft; der Zug hält erst, als alles zu spät ist. Thiel stürzt auf die Gleise, findet aber nur noch Tobias’ blutbefleckte Mütze. In diesem Moment zerfällt die mühsam errichtete Fassade: er fällt in Ohnmacht, erwacht in leerem Starren, betet, lacht, schweigt – alles zugleich.
Thiel ist gebrochen. Am nächsten Morgen werden Lene und das jüngste Kind der Familie – noch ein Säugling – ermordet im Schlafzimmer aufgefunden. Thiel ist verschwunden. Wenige Stunden später sitzt er apathisch am Gleisbett, Körper und Geist ausgelöscht.
Damit vollendet sich die «Tragödie des kleinen Mannes»: Ein gewöhnlicher Arbeiter, eingezwängt in soziale und technische Zwänge, wird erst Opfer, dann Täter – ein tragisches Beispiel dafür, welche zerstörerische Macht ein stummer Konflikt entwickeln kann, wenn ihm kein Ventil gegeben wird.